Einleitung
Jüngst habe ich mir mal wieder ein YouTube-Video von Prof. Dr. Christian Rieck angesehen. Er ist Professor in Frankfurt und das Steckenpferd in seinen YouTube-Videos ist die Spieltheorie. Es macht großen Spaß die Videos anzusehen, denn er bringt ganz neue Ansichten auf den Tisch, die es sich für mich lohnt, näher zu beleuchten. Gleichwohl sind manchmal Darstellungen in seinen Videos dabei, die etwas weit hergeholt klingen und mich triggern, selbst intensiver zu recherchieren.
Prof. Dr. Christian Rieck wendet die Spieltheorie oft auf aktuelle politische und gesellschaftliche Themen an und hat diesmal Esther Bockwyt interviewt:
Sie ist Psychologin und Autorin und mehr Informationen über sich gibt sie auf ihrer Homepage preis.
Ihr neuestes Buch, „Woke – Psychologie eines Kulturkampfes“, erschienen im Februar 2024 im Westend Verlag, ist das Thema des Interviews. Dort findet sich zu dem Buch auch eine Kurzbeschreibung des Inhaltes:
„Die Psychologin Esther Bockwyt betrachtet den Ursprung und die Folgen der Woke-Bewegung erstmals aus psychologischer Perspektive. Sie sieht Wokeness als den exzessiven wie vergeblichen Versuch, Menschen vor der Übernahme von reifer Verantwortung und unerwünschten Empfindungen zu schützen. [..] So kritisch wie ausgewogen und fernab von schrillen Tonlagen fragt die Autorin: Was bedeutet Wokeness für unsere psychische Gesundheit und das gesellschaftliche Miteinander?“
Esther Bockwyt, „Woke – Psychologie eines Kulturkampfes“
Im Interview wurden beängstigende Sachverhalte beschrieben, die so eben auch in ihrem Buch zu finden sind: Die Wokeness oder woke Einstellung, die als gut gedachte Gegenbewegung zu Rassismus und Sexismus entstanden ist, hat sich in eine fast schon militante Bewegung und Ideologie weiterentwickelt. Sie stellt fest, dass „die positive Idee des Schutzes von Minderheiten und des Ausgleichs von Ungerechtigkeiten ist in ein starres, einengendes Schubladendenken mit pessimistischem Welt- und Menschenbild gedreht, sodass eine schwer überwindbare Wand zwischen Benachteiligten und Privilegierten entstehen kann.“ (aus „Produktinformationen zu Woke“ beim Westend Verlag).
Im Interview gibt es viele Details dazu zu hören und ich habe noch am selben Tag das angesprochene Buch von Esther Bockwyt bestellt. Gerade auch ihre Feststellung, dass sich die Wokeness Bewegung in staatlichen Institutionen und in Denkmustern von Menschen ausgebreitet und festgesetzt hat, klingt für mich schon fast nach Verschwörungstheorie und damit überzeichnet, aber gerade deshalb war eine weitere Recherche für mich unabdingbar.
Das Buch gliedert sich in drei Kapitel: zunächst beschreibt sie die „Woke Welten“, wie sie es nennt, kommt im zweiten Kapitel zur psychologischen Betrachtung dieser „Woke Welten“, um dann im dritten Kapitel eine Art Fazit zu ziehen.
Das erste Kapitel war für mich eine Einführung in den Begriff der Wokeness, die ich sehr leicht konsumieren konnte, da sie viele Themen beinhaltete, die ich nicht gut kannte, die aufschlussreich und interessant beschrieben wurden und die sowohl das historische Entstehen der Bewegung beinhaltet als auch versucht die Begriffe Woke-Bewegung, Rassismus, Sexismus, Geschlecht, Körper, Sexualität relativ zueinander einzuordnen. Es schließt mit einer übersichtlichen und prägnanten zusammenfassenden Darstellung der „Woke Kernelemente“ (Seite 94 ff.).
Das Kapitel zwei hat mich oft verloren, weil es nach meinem Empfinden immer wieder um dieselbe Annahme und dieselbe Begründung kreiste. Zwar mit verschiedenen Nuancen aber eben nur Nuancen und das ermüdete mich schnell. Vermutlich auch, da ich als Nicht-Psychologe auch einfach hier und da nicht gut genug folgen konnte. Dies tut allerdings der Tatsache keinen Abbruch, dass ich das Buch aufgrund des ersten Kapitels empfehlen kann.
“Gender-Debatten”
Nachdem ich das Buch verdaut hatte und immer noch in einigen Punkten gar nicht glauben konnte, was ich gelesen hatte, ging ich der Frage nach, in wie weit das Buch zwar Ereignisse, Forschungsergebnisse und Aussagen korrekt darstellt, diese aber eventuell nur punktuelle Ereignisse waren und statistisch gesehen, die teilweise erschreckenden Aussagen und Ableitungen von Anhängern der Woke-Bewegung, eher Ausnahmen und Randerscheinungen sind, die überhöht und dramatischer dargestellt werden, als sie tatsächlich sind.
Eine Internet-Recherche brachte mich schnell zu Beispielen, wie sie in Esther Bockwyts Buch beschrieben werden: ein Vortrag über Geschlecht und Gender an der Berliner Humboldt-Universität z.B., der im Sommer 2022 aus Sicherheitsgründen abgesagt wurde, nachdem der "Arbeitskreis kritischer Jurist*innen" einen Protestaufruf gestartet hatte. Der Vortrag von Biologin Marie-Luise Vollbrecht mit dem Thema „Geschlecht ist nicht (Ge)schlecht, Sex, Gender und warum es in der Biologie zwei Geschlechter gibt“, sei von einer Person, die sich mit "einer Bewegung [solidarisiere], welche die Existenz von TIN*-Personen leugnet": https://www.sueddeutsche.de/wissen/wissenschaft-humboldt-universitaet-holt-geschlechtervortrag-nach-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-220714-99-15461.
Hier auch sehr schön allerdings zu lesen, dass nach heftiger Kritik der Vortrag nachgeholt wurde. Immerhin. Die Vortragende gab in einem Interview mit der „Zeit“ an, dass „Biologen, die versuchen, über Zweigeschlechtlichkeit aufzuklären, (werden) inzwischen offen und regelmäßig angefeindet“. Dieser eine Vorfall ist für mich ein Paradebeispiel für Cancel-Culture und daher für mich bedenklich, bringt aber wieder die Frage auf, was „regelmäßig“ bedeutet. Sind es vielleicht doch Einzelfälle, die die Betroffenen nur überhöht wahrnehmen?
Gerade Themen rund um Geschlechtlichkeit und Sexualität triggern hitzige Debatten und so kommt es auch zu Demonstrationen wie z.B. 2015 in Stuttgart, bei der die Demonstrierenden gegen die Pläne der amtierenden rot-grünen Landesregierung auf die Straße gegangen sind, das Thema „Sexuelle Vielfalt“ im Bildungsplan zu verankern: https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.demo-in-stuttgart-wieder-protest-gegen-sexuelle-vielfalt-im-bildungsplan.42d6131a-9b89-4d3d-9ce0-0e7d2eeddbe6.html.
Es ist also kein Zufall, dass auch im Deutschen Bundestag immer wieder über diese Themen diskutiert wird und auch Anträge gestellt werden, wie z.B. im Oktober 2023 von Abgeordneten der AfD-Fraktion mit dem Titel „Genderideologie – Gefahren von Bildung, Wissenschaft und Kultur abwenden“. Der Antrag kann auf dem Internet-Portal des Deutschen Bundestages nachgelesen werden. Er war in der Sitzung vom 18. Oktober 2023 der Tagesordnungspunkt (TOP) Nummer 6, https://www.bundestag.de/tagesordnung?week=42&year=2023, und kann nicht nur als PDF heruntergeladen werden, sondern ebenso die Debatte um diesen TOP als Aufzeichnung angeschaut werden: https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2023/kw42-de-genderideologie-971378
Die Debatte zeigt zum einen, dass im Bundestag oft einfach nicht auf Fragen und Argumente eingegangen wird, ein schauriger Fall einer destruktiven Diskussionskultur, andererseits aber auch, wie eine Partei es schaffen kann, anderen Abgeordneten letztlich Zeit zu stehlen, in dem sie Anträge stellt, die sich inhaltlich als sinnlos, mindestens als schlecht vorbereitet oder einfach schlicht als falsch entlarven lassen. Zu dieser Aussage komme ich, da ich mir den Antrag der AfD durchgelesen habe und den Quellenangaben darin gefolgt bin. Die zwei für mich prägnantesten Quellen habe ich näher angesehen:
Arbeitshilfe des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, „Gender Mainstreaming in Forschungsvorhaben“
Es wird beispielhaft eine Arbeitshilfe des Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend benannt, nämlich „Gender Mainstreaming in Forschungsvorhaben“, https://www.bmfsfj.de/resource/blob/80448/292e691a5db4b14dc-3d29e8636e9c89d/gm-arbeitshilfe-forschungsvorhaben-data.pdf und darauf abgehoben, dass dies ein Beispiel sei, dass die „Lehrinhalte der Genderforschung [..] die Curricula jedes nur erdenklichen Studienganges [durchdringen würden]“. Es wird so dargestellt, als würde hier eine Beeinflussung stattfinden. Die Arbeitshilfe gibt indes aber überhaupt keine solche Beeinflussung vor. Sie beschreibt stattdessen bereits in der Einleitung im Kapitel 1.1, „Grundsätze“, was „Gender Mainstreaming“ bedeutet, nämlich „bei allen Vorhaben die unterschiedlichen Lebenssituationen und Interessen von Frauen und Männern von vornherein und regelmäßig zu berücksichtigen“ und weiter, dass „durch die Ausrichtung an den Lebensrealitäten beider Geschlechter wird die Wirksamkeit der Maßnahmen und Vorhaben erhöht, da sie pass und zielgenauer werden“. Daran kann man nun wirklich nichts aussetzen. Es werden in keiner Weise, anders als behauptet, biologische Fakten verleugnet. Im Gegenteil: die Arbeitshilfe gibt Hinweise und Empfehlungen, wie in der Wissenschaft in besonderem Maße darauf geachtet werden kann, bei der Planung, der Durchführung und der Auswertung von Studien die Unterschiede von Mann und Frau, falls relevant, einfließen zu lassen. Eine absolut logische und nachvollziehbare Forderung. Es gibt unzählige Beispiele für Forschung, in der biologisch männliche Parameter einbezogen wurden, nicht aber die von biologisch weiblichen Personen. Besonders anschaulich im Fall von Crash-Test-Dummies im Automobilbau, die in keiner Weise die Anatomie einer Frau berücksichtigen und daher tatsächlich die Sicherheitsvorkehrungen in Fahrzeugen letztlich für Männer optimiert wurden und nicht für Frauen. Siehe dazu das interessante Interview mit Astrid Linder, einer Professorin für Verkehrssicherheit am Schwedischen Nationalen Institut für Straßen- und Verkehrsforschung: https://www.heise.de/hintergrund/Crashtest-Dummys-Die-Durchschnittsfrau-wurde-nie-zu-einem-physischen-Modell-7519164.html
„Feministinnen sowie Gender-Lobbygruppen (LGBTQ-Community) drängen in die Schulen und stellen die natürliche Geschlechterzugehörigkeit infrage“
Im Antrag der AfD wird auf https://www.lsvd.de/de/ct/416-die-rechtlichen-vorgaben-fuer-den-sexualkundeunterricht verwiesen und darauf, dass „die natürliche Geschlechterzugehörigkeit“ darin in Frage gestellt würde. Tatsächlich gibt diese Seite einen Überblick über die Vorgaben der 16 Deutschen Bundesländer zur Sexualaufklärung in Schulen: „Bildungspläne, Schulgesetze und Richtlinien zur Sexualaufklärung geben den Rahmen vor, ab wann und wie sexuelle und geschlechtliche Vielfalt in Schule und Unterricht Eingang finden soll“.
Der Überblick führt dazu auch weiter aus, dass
„Besonders Schulen und Bildungseinrichtungen sollen junge Menschen auf diese Vielfalt [Die Vielfalt von Lebensweisen und Identitäten] vorbereiten. Oft gelingt das jedoch nur mit mäßigem Erfolg. Kinder und Jugendliche, die lesbisch, schwul, bisexuell, trans* oder intergeschlechtlich (LSBTI) sind oder auch nur dafür gehalten werden, erfahren immer noch Mobbing und Gewalt auf Schulhöfen. Wörter wie „schwul“ oder „lesbisch“ werden als Schimpfwörter missbraucht und bleiben von Lehrkräften oftmals unwidersprochen. Fast alle Lehrkräfte bekommen Homophobie und Transfeindlichkeit mit. Die wenigstens fühlen sich aber kompetent genug für das Thema "sexuelle und geschlechtliche Vielfalt".“
Aus meiner Sicht eine absolut nachvollziehbare Begründung für die Zusammenstellung der Auszüge aus den Bildungsplänen der 16 Bundesländer, damit Schulleitung und Lehrkräfte sich daran zunächst orientieren können. Es ist eine praktische Zusammenfassung, die auch mich eingeladen hat, konkrete Paragrafen der verschiedenen Schulgesetze auszugsweise zu lesen und zu vergleichen. Darin sind Formulierungen zu finden, die offensichtlich wohl überlegt und sorgfältig erarbeitet und zusammengestellt wurden und die mir ein sehr gutes Gefühl geben, dass an den Schulen an Kindern und Jugendlichen in keiner Weise Indoktrination betrieben wird.
Hier ein Beispiel:
„Der konstruktive Umgang mit Vielfalt stellt eine wichtige Kompetenz für die Menschen in einer zunehmend von Komplexität und Vielfalt geprägten modernen Gesellschaft dar. In der modernen Gesellschaft begegnen sich Menschen unterschiedlicher Staatsangehörigkeit, Nationalität, Ethnie, Religion oder Weltanschauung, unterschiedlichen Alters, psychischer, geistiger und physischer Disposition sowie geschlechtlicher Identität und sexueller Orientierung. Kennzeichnend sind Individualisierung und Pluralisierung von Lebensentwürfen.“
Mein Fazit
Das Thema Sexualität und Gendern triggert auch mich sehr leicht, erst recht in Kombination mit einer Darstellung der Woke-Bewegung bzw. derer Befürworter in einer Art und Weise, dass sie die Vermutung einer Verschwörungstheorie nahelegt. Wieso gelingt dies bei mir immer wieder, frage ich mich?
In der Reflektion sehe ich, dass die Cancel-Culture und die Bestrebungen, manche Meinungsäußerungen und Vorträge zu verhindern, wie in obigem Beispiel an der Humboldt-Universität Berlin, nennenswert dazu beitragen. Die Vorstellung, dass mir manche Informationen absichtlich vorenthalten werden, macht mich wütend. Es stellt eine Bevormundung dar, die ich grundsätzlich ablehne, egal aus welchem Grund sie passiert. Es gibt keine Möglichkeit für mich, es als „gut gemeint“ zu akzeptieren. Es fordert mich eher heraus, immer wieder aufs Neue, der vorenthaltenen Inhalten doch noch habhaft zu werden. Die Chance dabei aber den Content von extremen linken oder rechten Personen zu finden, der sich als irreführend oder faktisch falsch entlarven lässt, ist leider hoch und die Zeit für eine Recherche, wie ich sie mir diesmal genommen habe, ist leider meistens nicht vorhanden. Ich kann als politisch und gesellschaftlich interessierter Mensch in der Regel diesen Aufwand in meiner Freizeit nicht betreiben und das bringt mich in ein Dilemma. Ich muss darauf vertrauen können, dass mir nichts vorenthalten wird. So einfach ist das. Entsprechend möchte ich hier auch insbesondere auf die unglaublich gute, weil ausführliche, fast schon ausufernde, Webseite des Deutschen Bundestages hinweisen:
https://www.bundestag.de
Es gibt Sitzungsprotokolle und Videoaufzeichnung der Debatten. Man findet die verschiedenen Anträge und Gesetzesvorlagen. Man kann sich über jeden Abgeordneten informieren und einsehen, wann er oder sie eine Rede gehalten hat und was die Inhalte derselben waren. Das ist so großartig und vertrauenserweckend, dass spätestens daran deutlich werden sollte, wir leben in einer Demokratie und diese steht nicht an einem Abgrund!